Erstes Schweizer Waldrapp-Nest seit 400 Jahren
Auf einem Fenstersims eines Motorrad-Geschäfts in Rümlag befindet sich ein Waldrapp-Nest. In Mitteleuropa galt der Waldrapp in freier Wildbahn seit 400 Jahren als ausgestorben.¶
Der Waldrapp führt sich sichtlich wohl in seinem Nest auf dem Fenstersims des Motorrad-Geschäfts in Rümlang. Bild: Martin Allemann
Auf einem Fenstersims eines Motorrad-Geschäfts in Rümlag befindet sich ein Waldrapp-Nest. In Mitteleuropa galt der Waldrapp in freier Wildbahn seit 400 Jahren als ausgestorben.¶
Rümlang. Nicht schlecht staunte man bei der Garage Bütikofer Harley-Davidson Zürich in Rümlang, als im April ein Waldrapp-Paar mit dem Nestbau auf einem Fenstersims begann. Laut Betriebsleiter Jannick Bardy wurde eine anfänglich vorgesehene Umplatzierung der Vögel von den zuständigen Aufzuchtverantwortlichen wieder verworfen, da das Nest bereits vorhanden war. Bardy betont, dass die Vögel willkommen und der Nistplatz mittlerweile mit Holzelementen ausgebaut worden sei.Die Vogel-Eltern gehören zur Brutkolonie Überlingen am Bodensee. Nach der Überwinterung in der Toskana kehrten sie im Frühjahr vorerst in ihr angestammtes Brutgebiet an den Bodensee zurück. Von dort flog das Paar aber wieder ab, um in rund 60 km Entfernung in Rümlang zu brüten. Das Besondere am Nest ist, dass es sich um das erste in der Schweiz seit rund 400 Jahren handelt. Jahrhundertelang galt der Waldrapp hierzulande und in ganz Mitteleuropa als ausgestorben. Historisch belegte Vorkommen des Waldrapps in der Schweiz umfassen vorab den Solothurner Jura, Oftringen oder das Sarganserland.
Dass sich die Vögel auf dem Fenstersims eingerichtet haben, ist laut Pascal Marty, Kurator des Tierparks Goldau, auch darauf zurückzuführen, dass diese eine gute An- und Abflugschneise benötigen, damit sie optimal hin und herfliegen können. Ansonsten bevorzugen sie beispielsweise Felsen. Eine entsprechende Höhen-Einnistung ist notwendig, um vor Räubern geschützt zu sein. Zwar besitzt der Waldrapp laut Marty auch natürliche Tierfeinde wie Eulen, Greifvögel oder Raubtiere am Boden. Doch die grösste Gefahr geht vom Menschen aus. Und zwar nicht allein durch ungeschützte Hochspannungsleitungen, sondern auch durch Wilderer, welche die Tiere abschiessen.Im Mittelalter war der rund 75 Zentimeter lange, schwarze Vogel mit dem langen, dünnen Schnabel noch im Alltag der Schweizer verankert, wie in entsprechenden Fachpublikationen festgehalten ist. Und in der berühmten «HistoriaAnimalium» (Naturgeschichte) des Zürcher Stadtarztes Conrad Gessner (1555 herausgegeben) wird neben einer Beschreibung des Vogels auch erwähnt, wie «feinschmeckend zart» dessen Fleisch sei. «Das Tier und dessen Eier wurden früher vom Menschen gegessen», erklärt Pascal Marty. Weil früher der Waldrapp in Felsnischen oder auf Felsvorsprüngen in Kolonien von 30 bis 400 Tieren brüteten, war die Jagd auf sie ziemlich einfach. Doch auch weitere Gründe führten zur Ausrottung dieser Vögel: Nebst der intensiven Bejagung haben auch Veränderungen des Klimas sowie der landwirtschaftlichen Bewirtschaftungsmethoden (Einsatz von Pestiziden) die Lebensumstände verändert. Aktuell kommen in den Zoos weltweit mehr Waldrappküken zur Welt als in freier Wildbahn. Nur dank der Zucht dieser Vögel im Rahmen des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms wird das Überleben der Vogelart gesichert. An diesem Programm beteiligt sich in der Schweiz beispielsweise der Natur- und Tierpark Goldau. Die Brutzeit beträgt 28 Tage. Im Alter von vier bis sechs Tagen werden die Küken bei Hand-Aufzucht aus den Nestern entnommen.
Da der Waldrapp ein Zugvogel ist, läuft die Auswilderung nicht reibungslos ab. Pascal Marty sagt: «Der Waldrapp weiss nicht instinktiv, wo er hinfliegen muss. Die Flugroute, die für ihn überlebensnotwendig ist, muss er von anderen Vögeln erlernen.» So flögen die Jungtiere zwar im Spätsommer von ihren Wohnplätzen los, aber alle in verschiedene Richtungen. Um zu vermeiden, dass sich die Waldrappe verirren, sei es möglich, dass die menschlichen Zieheltern mit Ultra-Leichtflugzeugen vorausfliegen, um den Tieren den Weg zu zeigen. Nach 20 Jahren Bemühungen um seine Wiederansiedlung, lebten Anfang 2022 bereits 200 Waldrappe im europäischen Alpenraum. Im Rahmen von «Northern Bald Ibis» soll diese Population nun bis zum Jahr 2028 selbsterhaltend werden und weitgehend ohne menschliche Eingriffe überdauern. Für «BirdLife» Schweiz geniesst laut Martin Schuck, dem stellvertretenden Geschäftsführer, die Wildvogel-Population des Waldrapps in Marokko Priorität. Er erachtet es nicht als grösseres Problem, dass die brütenden Vögel aus Überlingen in Rümlang von den Menschen gestört werden könnten. «Sie kennen den Menschen und nisteten sich selbst in einem Industriegebiet ein.»
Richard Stoffel
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